Die Entstehung der Chormusik in den Kirchen: eine römische Geschichte.

Die Menschen singen in Gruppen, seit sie sich nachts um das Feuer versammeln und ihre Feinde in den Wäldern verjagen. Das heißt, seit Anbeginn der Zeit.

Sie fühlten sich warm und einander nahe. Sie teilten Heimweh oder die Sehnsucht nach Liebe. Der Verlust eines Kindes gehörte allen, ebenso wie die Angst vor dem Unbekannten oder die Freude über die Rückkehr. Gemeinsam zu singen bedeutete, Kummer und Erinnerungen zu verarbeiten. Das tut es immer noch. Im Laufe der Jahrhunderte hat die herzerwärmende Kraft der Choräle nie nachgelassen.

Chöre begleiten Rituale und Feste wie schon vor Tausenden von Jahren. Der Gesang ist in jeder Kultur unverzichtbar, genau wie die Religion, deren Tempel überall nach Osten ausgerichtet sind. Der Chor findet sich im griechischen Theater, in der Ilias, in den Synagogen des alten Israel und bei den Pygmäen, deren höchste Kulturstufe er darstellt.

Menschen, die zusammen singen, sind ein unsterbliches Bild. Sie könnten in einer Kirche oder bei einem Popkonzert sein. Wir könnten sie auf der Straße sehen, wie sie ihre Stimmen zu einem einzigen Klang vereinen. Ob es sich um gregorianische Gesänge, Gospel, Weihnachtslieder oder Refrains in einem Paradenlied handelt, der Zweck ändert sich nie. Stimmen in einem Ensemble ermöglichen unsere Vordtellung von gemeinsame Gefühle. Einzelne Melodielinien stehen für persönliche Gefühle. Das universelle menschliche Streben nach Hoffnung und Glück erklingt in dem musikalischen Akkord, den sie bilden.

Wir hören Chöre im Gottesdienst, bei Konzerten oder sogar auf der Straße. Unsere Vorfahren fürchteten sich vor dem Tod und erfanden Praktiken und Feste, um nicht daran denken zu müssen. Die Wissenschaft hat den Tod noch immer nicht besiegt, und so folgen wir ihrem Weg. Die Gesellschaft feiert Ereignisse, die ursprünglich mit den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen zusammenhingen. Heute wie gestern bestimmen Geburt, Eintritt ins Erwachsenenalter und Familie wesentliche Abschnitte im Leben der Menschen. Zu all diesen Kapiteln könnte ein Chor eine Hymne singen.

Wir vergessen immer wieder, dass wir als Menschen nichts anderes sind als eine Tierart mit einer entwickelten Großhirnrinde. Nisten ist eines unserer ureigenen Bedürfnisse. Nichts ähnelt einem Nest mehr als ein Chor. Seine Mitglieder bezeichnen sich oft als Teil einer Familie. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe gibt den Menschen ein Gefühl der Sicherheit. In früheren Zeiten konnte die Bedrohung durch die Tiere des Waldes, ein Gewitter, ein Erdbeben oder ein Feuerausbruch erfolgen. Heute ist es eine hektische Welt, die auf dem Kult der Arbeit und des Wettbewerbs basiert. Für Beziehungen bleibt da wenig Zeit. Vielleicht produzieren wir Dopamin fast ausschließlich durch Essen und zwanghaftes Online-Shopping. Wir haben vermeidende Persönlichkeiten entwickelt. Das sind die Monster, gegen die wir kämpfen müssen. Die westliche Gesellschaft war noch nie so zerrüttet; die Menschen fühlen sich einsam wie selten zuvor. Das Gemeinschaftsleben wird durch das individuelle Leben ersetzt.

Doch jede Regel will ihre Ausnahme. Es gibt immer noch Chöre, was bedeutet, dass einige Menschen sich dafür entscheiden, sich nicht von ihren Gefühlen fernzuhalten und sie gemeinsam auszudrücken. Die Zeit, die man mit seinen Mitstreitern und dem Publikum verbringt, wird kostbar. Ein besonderer Moment, den die Griechen Kàiros nannten. In diesem Fall handelt es sich um einen gemeinsamen Austausch von Gefühlen. Die Sehnsucht nach Schönheit war noch nie so lebendig wie in unseren Tagen. Das Singen im Chor ist für manche ein Rettungsanker.

Ich singe seit vielen Jahren in einem polyphonischen Chor in den Kirchen von Rom, Italien. Als Studentin der Kunstgeschichte und Fremdenführerin besuche ich fast täglich den Petersdom. Wie aufregend war es, als ich entdeckte, dass Giovanni Pierluigi da Palestrina, einer der bedeutendsten Komponisten mehrstimmiger Musik, im linken Querschiff begraben ist. Dennoch hätte ich nicht überrascht sein sollen. Die Ewige Stadt hat eine der ältesten Chorgesangstraditionen der Welt.

In den frühen römischen Kirchen feierten die Christen das Himmelreich, das sie als nahe bevorstehend empfanden. Sie taten dies, indem sie Hymnen sangen, aus denen die Gregorianischen Gesänge hervorgingen.

Nehmen wir an, wir besuchen eines Tages den Petersdom. Seitdem die Basilika existiert, wurden dort im Laufe der Jahrhunderte etwa tausend Menschen beigesetzt: mehrere Päpste, Kardinäle und Ordensleute, Königsfamilien und katholische Aristokraten. Unter den vielen Gräbern ist eines besonders erwähnenswert für unsere Geschichte. Im linken Querschiff, direkt neben dem Altar des Heiligen Josef, befindet sich das Grab eines der bedeutendsten Komponisten der polyphonen Musik der Renaissance: Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca.1525-1594). Schon als kleiner Junge machte er die ersten Schritte seiner musikalischen Karriere in einem Chor; er gehörte tatsächlich zu den putti cantori (Kinderchor) der Basilika von Santa Maria Maggiore. Später veröffentlichte er mehrere Messbücher und wurde in den Kreis der Kantoren der päpstlichen Kapelle, also die Sixtinischen Kapelle im Vatikan, aufgenommen. Danach wurde er auch Kapellmeister im Lateran und dann wieder in Santa Maria Maggiore. Zusammen mit anderen Kapellmeistern, Sängern und Interpreten in Rom gründete er die Accademia di Santa Cecilia, heutzutage eine der angesehensten Musikinstitutionen der Welt. Noch zu seinen Lebzeiten galt er als einer der großartigsten Komponisten die es gab.

Petersdom. Ausblick von der Kuppel.

Nach dem Konzil von Trient wurde seine Musik wegen ihrer Auslegung der heiligen Texte zum Vorbild genommen. Es war eine Musik, in der die Klarheit der Melodie und die Transparenz des Contrapunkts nicht im Widerspruch zu den Worten der Liturgie standen. Anstatt den Text zu überlagern, wie es in einem Großteil der Musikproduktion des 15. Jahrhunderts vorkam, stellten sich Palestrinas Kompositionen in den Dienst der Worte und kommentierten sie eher. Wie in der bildenden Kunst, so verlangte die Gegenreformation auch in der Musik eine direkte, verständliche und evokative Vermittlung der heiligen Botschaft. Giovanni Pierluigi da Palestrina stellte ein Beziehungspunkt für bedeutende Komponisten wie Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven. Noch heute orientieren wir uns an seinem Werk, wenn es um die Technik des Kontrapunkts geht. Die Geschichte und das Schaffen dieses großen Komponisten sind eng mit Rom und der Vokalpolyphonie verbunden. Es ist kein Zufall, dass der gregorianische Gesang viele Jahrhunderte zuvor in genau den Basiliken entstand, die er zeit seines Lebens besuchte. Was die Vokalpolyphonie in der Kirchenmusik anbelangt, so repräsentiert Giovanni Pierluigi da Palestrina zweifellos der bedeutendste italienische Komponist. Seine Werke auf diesem Gebiet gehören zu den schönsten, die je geschrieben wurden.

In Europa hat der christliche Chorgesang eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der westlichen Musikkultur gespielt, weil er auf antike mediterrane Traditionen zurückgeht (hauptsächlich hebräisch), aber auch weil in diesem Bereich die älteste Form der Notenschrift vorkommt die wir kennen (Neume). Der römisch-katholische liturgische Gesang hat also uralte Wurzeln. Es ist die Geschichte von jüdischen Exilanten die ihre Bräuche verbreiten, von orientalischen Heiligen die in ferne Länder reisen um heidnische Bevölkerungen zu bekehren, von wertvollen Miniaturkodexe die spurlos verschwinden, von Päpsten die verzweifelt versuchen ihre Unabhängigkeit aufzubewahren, und von Herrschern die sich nach der Legitimation ihrer Macht sehnen.

In der Kaiserzeit begleiteten weltliche Lieder religiöse Feiern und Spiele. Die Orgel, ein Instrument aus persischen Herkunft, kündigte die Ankunft des Kaisers im Kolosseum an. Der christliche Gesang stammt jedoch eindeutig von der jüdischen Psalmodie ab. Der Anfang dieser Erzählung verliert sich im Wandern der Juden nach der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels in Jerusalem, durch Nebukadnezar II (587 v. Chr.) und Titus (70 n. Chr.). Mit der Vernichtung des salomonischen Tempels verschwanden allmählich die Musikinstrumente zur Begleitung der Liturgie zugunsten der ausschließlichen Verwendung der menschlichen Stimme als Zeichen der Trauer über den Fall Jerusalems. Die erneute Zerstörung des (zweiten) Tempels führte zur Diaspora im Mittelmeerraum und darüber hinaus. Es waren die Juden die die Botschaft Christi im ganzen Römischen Reich verbreiteten und man kann zu den Schluss kommen, das frühe Christentum sei von der synagogalen Liturgie beeinflusst worden. Die Kantoren sind die direkten Erben der psalmodischen Solisten in den Synagogen.

Eine antike Legende erzählt Papst Sylvester I. (oder Papst Damasus, beide lebten im 4. Jahrhundert n. Chr.) hätte die erste Schola Cantorum (Sängerschule) in San Giovanni in Laterano gegründet. Bereits im frühen Christentum, zusammen mit dem Petersdom und San Paolo Fuori le Mura, bildete die Lateranskirche ein Pol in der Entwicklung des Rufes Roms als sakrales Zentrum. Wir wissen praktisch nichts über diese sehr frühe Einrichtung, vor allem, weil die Melodie der Lieder damals nur mündlich, von Meister zu Schüler, weitergegeben wurde. Die klassische Welt hatte tatsächlich eine grafische Notation der Musik gekannt, die jedoch im Mittelalter völlig verlorengegangen war. Im 6. Jahrh. n. Chr. sagte der heilige Isidor von Sevilla: "wenn der Mensch die Töne nicht auswendig lernt, verschwinden sie, weil sie nicht aufgeschrieben werden können".

Schon im frühen Mittelalter waren die vier päpstlichen Basiliken mit bestimmten Feierlichkeiten und Traditionen verbunden; durch die Anwesenheit der Apostelgräber hatten sich der Petersdom und San Paolo Fuori le Mura in wichtigen Anziehungspunkten für religiöse Pilgerfahrten entwickelt. Santa Maria Maggiore wurde die Kirche wo der Papst die Weihnachtsmesse zelebrierte, dagegen die Ostermesse wurde in der Laterankirche abgehalten.

Laterankirche. Die Kathedra.

Die schola cantorum versammelte sich ursprünglich am Ende des Mittelschiffs, dem Hochaltar gegenüber, in einem einbeschränkten Bezirk dass auf derselben Weise genannt wurde. Manchmal war dieser Bezirk leicht erhöht und mit dem Altarraum durch ein Zugang verbunden, das porta santa (heilige Pforte) hiess. Die Umschrankung war aus Holz oder Marmor, mit Kosmaten-Dekorationen geschmückt. Hier standen also die Sänger, die den ersten Teil der Psalmen anstimmten, auf dem dann der Gesang der Gläubigen folgte. Für jedes Fest gibt es bestimmte Hymnen, die im Mittelalter in Miniaturkodexe erhalten und im Fokus des Chors ausgestellt wurden. Von der Kanzel aus zeigte der Diakon den Gläubigen die Bilder, sobald die Schriftrollen entfaltet wurden.

 In der Basilika von San Clemente in Rom kann man heute noch eine prächtige, mittelalterliche schola cantorum bewundern. Übrigens stammt die Inschrift auf dem mosaikgeschmückten Triumphbogen aus einer Antiphon des Weihnachtsgottesdienstes und wurde im ersten Teil der Messe laut am Altar gesungen.  Auch in S. Maria in Trastevere betrifft die Inschrift in der Apsis den Gottesdienst des ersten Adventssonntags und der Verkündigung.

Auf dieser Weise entstand in Italien der Gregorianische Choral, der die katolische Liturgie über tausend Jahre lang begleitete. Der Name geht auf Papst Gregor I zurück (6. Jh. n. Chr.). Unter seinem Pontifikat bekam die römisch-liturgische Tradition eine ziemlich genaue Struktur; eine Gesangschule wurde gegründet, gedacht für Knaben mit schönen Stimmen. Der Papst schenkte der neuen Anstalt Land und es wurden zwei Häuser gebaut, eines im Lateran und das andere im Vatikan.  Zweck des Instituts war die Vermittlung von Gesangstechniken sowie die Weitergabe des Repertoires, das damals ausschließlich mündlich überliefert wurde. Anscheinend dauerte die gesamte Ausbildung neun Jahre. 

S. Clemente. Schola cantorum im Mittelschiff.

Papst Gregor I führte ein asketisches Leben und gründete mehrere Klöster. Das Mönchtum, eine Lebensweise aus asiatischem Ursprung, begann zu dieser Zeit in Europa aufzutauchen, nachdem die Völkerwanderung eine allgemeine Destabilisierung verursacht hatte. Die Klöster spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des geistlichen Chorgesangs. Die Mönche waren es, die eigenhändig die traditionellen Lieder in den Manuskripten kopierten. Die Schreibstuben wo hadgeschriebene Bücher hergestellt wurden nannte man scriptoria; in Rom gab es seit dem 9. Jahrhundert eine wichtige Schreibschule bei der Basilika von Santa Cecilia in Trastevere. Die hl. Cäcilie ist zufälligerweise auch die Schutzpatronin der Musik. Außerhalb von Rom war hingegen das wichtigste scriptorium der Region bei der Abtei von Montecassino, aus der Abt Desiderius stammte (11. Jahrh.n.Chr.), der irgendwann Kardinal von Santa Cecilia in Trastevere wurde, nach Rom übersiedelte und neue Formen des liturgischen Gesangs förderte, indem er u. a. die Abfassung des Graduale von Cologny beeinflusste.

Der gregorianische Choral hat bis heute die ehrwürdige Atmosphäre seines Anbruchs erhalten, als die Sänger in den antiken Basiliken tiefsinnige, umwerfende Lobgesänge auf den Herrn anstimmten. Der Zauber des deklamierten Wortes, kombiniert mit der Melodie, erklang in den riesigen Mosaikgewölben und verlieh  der Botschaft Einzigartigkeit und Klarheit. In der Apsis, der strenge Blick der Apostel Petrus und Paulus wachte über den Chor und über Rom selbst. Die Sänger agierten in strenger Anonymität. Das Singen wurde als ein Werk im Dienst Gottes angesehen.

Mit der Entstehung von Klöstern und Abteien schritt auch die Kirchenarchitektur vorwärts: ab dem 12. Jahrhundert fing man in wichtigen Kirchen an, den Bereich zwischen Hochaltar und Apsis als Chor zu bezeichnen und mit eingelegten Holzstühlen auszustatten, die von Sängern und hohen kirchlichen Würdenträgern besetzt wurden.

Eine bezaubernde Legende erzählt von einem Kodex im Alt-St.Peter, dass mit einer goldenen Kette am Hochaltar angebracht war: bekannt als Antiphonarius Cento und anscheinend von Papst Gregor I zusammengesetzt, erweist sich diese Liedersammlung als Repertoire-Hauptkorpus des gregorianischen Choral. Es ist nicht klar ob Gregor I der Verfasser war oder einfach die traditionellen Lieder in einer Kollektion gesammelt hätte. Hinter einem Vorhang verborgen, lautet die Saga, diktierte Papst Gregor den Kodex einem Mönch. Aufgrund von den langen Pausen die der Papst beim Diktieren machte, wurde der Mönch neugierig und entdeckte, als er den Vorhang beiseite zog, dass eine Taube - das heisst, der Heilige Geist selbst - dem Papst die Lieder ins Ohr flüsterte. Der Antiphonarius wäre also göttlich inspiriert. In einer späteren Zeit ging diese ursprüngliche, legendäre Verfassung verloren, vorgeblich während eine militärische Belagerung im Mittelalter dessen Bedingungen unbekannt sind. Ein Großteil dieser schönen Geschichte scheint im grossen und ganzen ein Hirngespinst von Johannes Diakon von Montecassino zu sein (8. Jahrh.n.Chr.), Biograf von Papst Gregor I und Historiker.

In Wirklichkeit soll diese Liedersammlung etwa zweihundert Jahre später entstanden sein, als Papst Stephan II. nach Gallien reiste um die Krönung des Frankenkönigs Pippin der Jüngere zu legitimieren, als Gegenleistung für militärische Unterstützung gegen die Langobarden. Bei dieser Gelegenheit entdeckte der Papst in Gallien eine ganz andere Musiktradition, aus orientalischer Herkunft. Der Grund dafür kann die Tatsache sein, dass Irenäus von Lyon, ein bedeutender Theologe aus Smyrna, in der Kaiserzeit nach Gallien gezogen war und das Land evangelisiert hatte.

Nach dem Untergang des Römischen Reiches reduzierten sich in Europa und im Mittelmeerraum die Kontakte unter Städten sehr stark. Dadurch verlor die christliche Liturgie ihre Einheit. In den östlichen Gebieten des Mittelmeers ergab sich Griechisch als die offizielle Sprache der orthodoxen Kirche, währenddem die katholische Kirche in Westeuropa Latein übernahm. Es ist jedoch bekannt, dass zumindest bis zum 4. Jahrhundert in der römischen Liturgie der Gottesdienst auf Griechisch abgehalten wurde. Was die Lieder betrifft, so bildeten sich mehrere eigenständige Traditionen. Im frühen Mittelalters wurden in Rom sowohl griechische als auch lateinische Lieder gesungen.

In Folge der Reise von Papst Stephan II. beschloss Pippin der Jüngere den römisch-liturgischen Kirchengesang zu übernehmen, vielleicht um seine Macht durch die Zustimmung des Papstes zu rechtfertigen. Der gregorianische Choral, wie wir ihn heute kennen, entstand aus dieser römisch-gallischen Mischung. Karl der Große setzte die Arbeit seines Vorgängers fort und verbreitete diesen Ritus überall im  Heilig-Römischen Reich.

Das ist die Art von Choral die Jahrhunderte später von Giovanni Pierluigi da Palestrina in ihrem Wesen erneuert wurde. Ein Gesang der uns tief berührt; eine Botschaft der Ewigkeit, dessen Reinheit und Feierlichkeit wir unverändert wahrnehmen. Heute noch ist diese Nachricht lebendig und bedeutungsvoll. Der Reiz des gregorianischen Choral liegt vielleicht gerade in seiner Zeitlosigkeit. Das heisst der Mensch ist letztlich immer derselbe: ein armseliges, verlorenes Geschöpf das Angst vor dem Tod hat und Trost im tiefen Sinn für das Schöne findet. Deshalb ist heute wie gestern der am besten geeignete Ort für Chorgesang die Kirche, oder genauer gesagt, die Kapelle.

Die erste historisch erwähnte schola cantorum im Lateran existiert heute noch und heisst Cappella Musicale Pia Lateranense. Sie wurde im Laufe der Jahrhunderte mehrmals reformiert, und seit dem 16. Jahrhundert singt der polyphoner Chor mit Orgelbegleitung, anders gesagt nicht länger a cappella.  Dieser Ausdruck bezeichnet den mehrstimmigen Gesang ohne musikalische Begleitung, wie beim Chor der Sixtinischen Kapelle.  Die Gesangsgruppe Cappella Musicale Pontificia Sistina ergänzt harmonisch die päpstliche Liturgien und ist in der Tat der direkte Erbe der Tradition begründet von Giovanni Pierluigi da Palestrina. Früher fanden die Papstmessen  hauptsächlich in der Sixtinischen Kapelle statt, heutzutage wird jedoch das Petersdom bevorzugt. Das Vokalensemble besteht aus zwanzig Sängern und fünfunddreißig pueri cantores, also Knabenstimmen.

Sollten wir den Petersdom an einem Sommertag gegen fünf Uhr nachmittags betreten, würden die Sonnenstrahlen bewundern die durch die Glasfenster der Basilika eindringen. Sie erinnern uns daran, mehr als alles andere, dass wir uns im Haus des Herrn befinden. Das schimmernde Blattgold verschärft dieses Gefühl weiter. In der katholischen Vorstellung muss das Haus Gottes ein Ort absoluter Herrlichkeit sein. Eine antike Vorstellung die im Laufe der Jahrhunderte durch erhabene Architekturen, vielfarbige Marmordekorationen, einströmendes Sonnenlicht und komplexe Mosaiken zum Ausdruck gebracht wurde; das Gold der Mosaiksteine diente immer als Synonym für das göttliche Licht. Und dann gibt es die Schönheit des Singens. Die kirchliche Chormusik ist die Anrufung schlechthin, die Bitte des Menschen zu Gott.

 

“Wer singt, betet doppelt.”

(Hl. Augustinus)

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